fuzzy logic
Eine Frage, ungefähr so alt wie die abendländische Kultur: Ab wann ist ein Haufen ein Haufen? Ab wie vielen, sagen wir mal Sandkörnern, kann man von einem Sandkörner-Haufen sprechen? Wie viele Bestandteile „Sandkörner“ sind notwendig, um die Entität „Haufen“ als solche bilden zu können? Und wie viele Bäume braucht man für einen Wald? Die so genannte Sorites-Paradoxie, auch als „Paradoxie des Haufens“ benannt, beschäftigte bereits im 4. Jahrhundert vor Christus einige griechische Philosophen, die auf das Problem der unscharfen Mengen gestoßen waren. Sie stellten fest, dass manche Gegenstände sich nicht eindeutig definieren lassen, sondern nur intuitiv erfasst werden können, bzw. dass in gewissen Fällen die Trennlinie zwischen Gegenstand und Nicht-Gegenstand vage bleibt. Demnach lässt sich eine Definition des Haufens nicht nach der mehr oder weniger hohen Anzahl seiner Einzelteile – der einzelnen Sandkörner – formulieren, sondern nach einem nicht exakten Übereinkommen über die Idee des Haufens.
Was zunächst als eine bloße Kuriosität der (Sprach-)Logik erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als eine fundamentale Frage der Kunst. Denn die Sorites-Paradoxie betrifft nicht nur die Exaktheit der lexikalen Einordnung mancher Gegenstände wie „Haufen“ oder „Wald“ – weit darüber hinaus geht es um deren physische Bestimmung und sinnlich erfahrbare Eigenschaften, um deren materielle Identität. Wann fängt ein Körper an, wann hört er auf? Wie viel Leerraum benötigt man, um Volumen wahrzunehmen? Wie ist das Verhältnis zwischen Struktur und Gestalt? Zwischen Kern und Oberfläche? Zwischen Teil und Ganzem? Diese Fragen sind konstitutiv für jede künstlerische – vor allem skulpturale oder plastische – Praxis und besitzen eine besondere Dringlichkeit in den Arbeiten von René Dietle.
Oberflächlich betrachtet könnte man Dietles Werk zur Minimal Art oder zur Concept Art zuordnen. Seine Plastiken und Zeichnungen sind gekennzeichnet durch puristische, geometrische Formen, die sich zwar zum Raum hin öffnen, aber den Raum nicht wirklich erobern und in einem eigenartigen Balancezustand stehen – als ob sie sich zurückhalten würden. In den dreidimensionalen Arbeiten werden vor allem industrielle, preiswerte und unspektakuläre Werkstoffe verwendet wie Papier, Eisendraht, Pappe oder feine Malerfolie. Sie sind fragil, von zerbrechlicher Struktur und empfindlicher Materialität. Sie werden mit reduzierten Eingriffen und in strengen Dispositionen manipuliert und kombiniert. Unabhängig davon, ob diese Werkstoffe gefaltet, geschnitten, gedreht oder gepresst werden, erfolgt deren Manipulierung stets ohne Emphase. Keine eindrucksvolle Virtuosität, keine demonstrative Effekthascherei, keine Aufsehen erregende Tour de Force. Der Künstler kommt direkt zum Punkt. Er hat sich von allem formellen Ballast befreit und lässt in einem Zustand der entblößten Ehrlichkeit – es ist auch ein Zustand der verletzlichen Nacktheit – seine Kunst gewähren.
Die Arbeit von René Dietle lässt sich als ein Oszillieren zwischen drei unterschiedlichen Gesten – drei grundverschiedenen Herangehensweisen – zusammenfassen. Es gibt zunächst die lakonische Geste. Es ist die Geste, die zur Entstehung von Arbeiten wie Flüchtige Skulptur I oder der unbetitelten Luft- und Folieninstallation von 2011 führt. Eine Geste, die, gerade im Kontext einer künstlerischen Praxis, sich kaum als solche erkennen lässt – weil sie als eine nicht-eingreifende, nichtinvasive wirkt. Es herrscht da ein Modus der Zurückhaltung, des Wenig- oder des Nichtstuns. Der Künstler kreiert lediglich eine Situation und verschwindet hinter diesem vorbereiteten Dispositiv. Ein sanfter Impuls wird gegeben und es entfalten sich, mehr oder weniger aus sich selbst und von den elementaren Prinzipien der Physik angetrieben, Formen und Volumen in den Raum, behaupten ihre Autonomie. Dinge geschehen einfach; die auktoriale Spur ist demnach schwach. Diese Geste ist von einer unbeteiligten Eleganz gekennzeichnet, von einer gewissen dandyhaften Nonchalance; das Kunstwerk entsteht en passant, ohne forcierten Subjektivismuskitsch, ohne dringliches Mitteilungsbedürfnis.
Die zweite Geste ist die meditative Geste. Eine extrem arbeitsintensive, aber auch sparsame Geste, sich immer und immer wiederholend, in sich ruhend und um sich kreisend, in All-over-Technik. Eine Geste, die nicht Mittel zum Zweck, sondern verwirklichter Zweck ist. Auch wenn die „Produkte“ eine unleugbare ästhetische Qualität aufweisen, scheint das Endergebnis an sich keine Rolle zu spielen. Die manuelle Tätigkeit, bzw. die geistige Energie, die Konzentration und die Aufmerksamkeit, die meditative, ja, hypnotische Kraft, die sich während dieser Tätigkeit entfalten, werden zum Sujet des Kunstwerks erklärt. So wird, wenn man vor Läufer, Engawa oder Teppich steht, vor allem eines sichtbar: die materialisierte Zeit. Das dicht gewobene Objekt ist Form gewordener Prozess. Momente, für immer vergangen, haben sich da kristallisiert, in einem Medium eingeschrieben. Es sind die Momente der Kreation. Wie alle meditativen Übungen fordert diese Geste ein schwieriges Schwingen zwischen dezidierter Absicht (die Geste entsteht nicht von selbst, sie muss gewollt werden) und gelassener Offenheit (die Geste lässt unvorhersehbare Entwicklungen zu). Dieses Atmen der künstlerischen Praxis von René Dietle ist besonders spürbar in plastischen Arbeiten wie Ohne Titel (2011) oder in den eben erwähnten Zeichnungen. Natürlich sind sowohl die kleinen Makel der menschlichen Hand als auch die Unwägbarkeiten der Umwelt integrale Bestandteile dieser Arbeiten.
Schließlich erkennen wir in diesem Werk eine forschende Geste. Es ist die Geste des Menschen, der die Mechanismen der Welt verstehen will. Es ist eine Geste voller Neugier, voller Wissensdrang – wobei dieses Wissen nicht theoretischer Natur, sondern empirisch fundiert ist. Wie in einem Testlabor werden die Eigenschaften eines Materials, teilweise unter künstlichen Extrembedingungen, ausgelotet. Die Charakteristiken mancher Werkstoffe werden mit den Naturgesetzen konfrontiert; einfache physische Prinzipien anschaulich demonstriert. Die Widerstandsfähigkeit oder die Ausdehnbarkeit von Plastik, das inhärente Gewicht von Finnpappe, die Festigkeit und Formbarkeit von Frischhaltefolie oder die Druckverhältnisse zwischen zwei Dämmplatten werden überprüft. Wenn diese Geste nicht unbedingt einen Anspruch auf wissenschaftliche Sachlichkeit besitzt, zitiert sie zumindest den Modus des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Der Künstler gesteht, dass er sich nicht auf irgendwelche Eingebungen verlässt, sondern dass er methodisch vorgeht. Schon die Titel verraten dies – Verzinkter Eisendraht, um einen runden Geländerpfosten herumgezogen ermöglicht zunächst keine symbolische oder metareflexive Lesart. What you see is what you get. Dies will jedoch nicht heißen, dass sich der Rezipient von Dietles Arbeiten im unterkühlten Universum der exakten Naturwissenschaften befinden würde. In diesem Verstehen-Wollen ist nämlich immer ein lustvoller Spieltrieb vorhanden. Forschen und Spielen sind ja zwei artverwandte Tätigkeiten; hier und dort werden Grenzen verschoben, Regeln neu erfunden und bekannte Objekte oder Phänomene in ein anderes Licht gerückt.
Ob man die Arbeiten von René Dietle unter einem dieser drei verschiedenen Modi – die lakonische, die meditative und die forschende Geste – betrachtet, oder ob man weniger analytisch herangeht und sich intuitiv darauf einlässt, stets spürt man da eine beherrschte Bescheidenheit. Da, wo die meisten Künstler in einen überheblichen Wettbewerb mit der Natur treten und ihr neue Formen und Objekte abringen wollen, scheint Dietle seinen Platz im gesamten System gefunden zu haben. Seine Skulpturen und Zeichnungen fügen sich harmonisch und gewaltfrei in die natürliche Ordnung ein. Sie haben die Selbstverständlichkeit, die natürliche Evidenz des „Soseins“– der taoistische Denker spricht an dieser Stelle von ziran, einem „An-und-für-sich-selbst“ bzw. „Aus-sich-selbst-heraus“, das auch „zweifellos, natürlich, klar“ und auch „Lauf der Dinge“ bedeutet. Wenn man Gebrauch von diesem interpretativen Raster macht, erscheint Dietles künstlerische Praxis als ein sanftes Mitfließen, das keinen Kampf, keinen Schrei und kein Gestikulieren kennt.
Ja, die Kunst von René Dietle ist ein einziges Understatement. Es ist aber nicht das Understatement des Schüchternen, Unsicheren, Zaudernden. Es ist nicht ein Understatement aus Verlegenheit oder aus Mangel an Selbstbewusstsein. Es ist eher die Bescheidenheit des Scharfsinnigen (oder des Klugen, wenn man vor der Nutzung dieses substantivierten Adjektivs nicht zurückschreckt). Es ist die einzig denkbare Haltung desjenigen, der unverstellt auf die Welt schaut und deren ungemeine Komplexität akzeptiert. Es ist die konsequente Aufrichtigkeit desjenigen, der in die Unbestimmbarkeit und Unkontrollierbarkeit der Phänomene unserer physischen Umgebung, in die Imponderabilität unserer Existenz und in die Fragilität aller Dinge geblickt hat. Es ist die weise Zurückhaltung desjenigen, der sich bewusst darüber geworden ist, dass er – auch als Künstler, Kreator und alter deus – nur über begrenzte Mittel verfügt und den Fluss des Lebens nicht umleiten kann.
Dr.Emmanuel Mir
2013